Aufgepasst, wenn die Tschäggättä losziehen….

    Die unheimlichen Gestalten sind im Lötschentaler Winter heimisch

    Die gefürchteten Tschäggättä gibt es wirklich: Zwischen Mariä Lichtmess und Aschermittwoch ziehen die in Fell gehüllten und mit Holzmasken versehenen Gestalten durch das verschneite Lötschental. Dieser uralte Brauch wird alljährlich im schmucken Seitental nördlich der Rhone zelebriert. Heute braucht man sich vor den Tschäggättä nicht mehr zu fürchten, wenn man ihnen mit Respekt begegnet. Dies war aber nicht immer so…

    (Bilder: Hervé Dubois)

    Vor den Tschäggättä rannten alle davon und begaben sich in ihren Häusern in Sicherheit, allen voran Mädchen und junge Frauen. Diese furchterregenden Gestalten galten früher als bös, grob und draufgängerisch. Auch wurden sie immer wieder des Diebstahls beschuldigt. Zwischen Mariä Lichtmess und Aschermittwoch  war man nur am Sonntag und während der Nacht vor ihnen sicher, denn da traten sie nie in Erscheinung. Ansonsten kannten sie keine Gnade im Umgang mit ihren Opfern, die sie im ganzen Tal verfolgten. Sie überfielen die vier Ortschaften des Lötschentals (Blatten, Ferden, Kippel und Wiler) und erschreckten die Dorfbewohner. Mädchen und junge Frauen wurden mit Kaminruss und Gülle traktiert oder ihr wurden die Gesichter mit Schnee eingerieben. Weitere brutale Praktiken wurden ihnen nachgesagt, wobei man nicht weiss, was Wirklichkeit war und was der Phantasie der Opferfamilien zuzuschreiben ist.

    Jedenfalls wurden die schlimmsten Untugenden dieser Grobiane Mitte des 19. Jahrhunderts mit einem amtlichen Verbot unterbunden. Der Prior von Kippel setzte eine Strafe von 50 Rappen auf die übertriebene Härte aus. Unsanft blieben die Sitten dennoch bis in den 60-er und 70-er Jahren des letzten Jahrhunderts. Heute braucht sich niemand mehr vor den Tschäggättä zu fürchten, vorausgesetzt, man provoziert sie nicht.

    Ungewisse Herkunft
    Der Ursprung dieses heidnisch-alemannischen Brauchtums geht ins frühe Mittelalter zurück und wurde später mit den katholischen Traditionen der Fasnacht und des Aschermittwochs verschmolzen. So erinnert beispielsweise der von den Tschäggättä eingesetzte Kaminruss an das christliche Aschenkreuz, das an Aschermittwoch den Menschen auf die Stirn gezeichnet wurde. Die Herkunft der wilden Gestalten ist unklar. Mehrere Erklärungsversuche wurden in den Raum gestellt, wobei keine einzige Theorie belegt ist. So geht eine Variante davon aus, dass es sich beim Brauch um eine Art Liebeswerben gegangen sei, da ausschliesslich ledige Männer in die Rolle der Tschäggättä schlüpfen durften. Opfer waren in erster Linie Mädchen und junge Frauen, was diese Theorie erhärten soll. Sollte daran wirklich etwas wahr sein, so waren die ledigen Lötschentalerinnen von damals wirklich nicht zu beneiden…. Bei anderen Theorien werden die Vertreibung der bösen Geister oder der Walliser Volksaufstand von 1550 (Trinkelstierkrieg), als die Aufständischen maskiert zum Kampf antraten, als Ursprung des Brauchtums genannt.

    Eine weit verbreitete Annahme geht von einem eher sozialen Hintergrund aus. Das Lötschental wird von der Lonza durchflossen. Der Bach trennt die Sonnenseite (Südhang) und die Schattenseite voneinander. Deshalb wohnen die meisten Lötschentaler noch heute auf der Sonnenseite. Hier macht sich der Frühling schneller bemerkbar und vor allem wächst alles viel besser und üppiger, was angepflanzt wird. Deshalb galten damals die Bewohner der Schattenseite als arm, diejenigen der Sonnenseite als privilegiert. Und so sollen im Winter, als die Essvorräte zur Neige gingen, die Söhne der Bauern der Schattenseite Raubzüge auf die Höfe der Sonnenseite durchgeführt und deren Vorratskammern geplündert haben. Die Überfälle sollen sie verkleidet mit Fell und Masken begangen haben, um nicht erkannt zu werden. Diese verkleideten Schurken nannte man «Schurten-Diebe», was auf die alemannischen Schurten zurückzuführen ist, die sich im Lötschental angesiedelt hatten. Als Siedler durften sie sich nur auf der Schattenseite niederlassen.

    Gesittete Umzüge
    Die Tschäggättä sind zum Wahrzeichen des Lötschentals geworden. Sie gelten entsprechend auch als Touristenattraktion. Aber nicht nur: Die Einheimischen lieben diesen alten Brauch und pflegen ihn auch entsprechend. Gewisse Regeln wurden mit den Jahren gelockert. So sind die Tschäggättä heutzutage auch abends unterwegs und es stecken nicht mehr nur ledige Lötschentaler hinter den Masken. Da sie stets Handschuhe tragen, sind die Eheringe jedoch nicht zu erkennen! Die wunderschönen Figuren sind zum festen Bestandteil der Lötschentaler Fasnacht geworden und locken jedes Jahr viele Walliser und Auswärtige ins verschneite Tal.

    Für Schaulustige empfiehlt sich vor allem der Tschäggättä-Umzug am Abend des schmutzigen Donnerstags, wenn die einzigartigen Gestalten durch die vier Dörfer des Tals ziehen. Zu sehen sind sie aber auch am traditionellen Fasnachtsumzug, der stets am letzten Samstag vor Aschermittwoch stattfindet.

    Wunderbare Maskenschnitzerei
    Die Tschäggättä sind mit einer am Gurt festgemachten Treichel sowie Holzstecken ausgerüstet. Als Verkleidung tragen sie eine Art Garn-Unterkleid, das wie eine Jutebekleidung aussieht und früher den ganzen Körper überzog, inklusive Füsse und Hände. Darüber grosse Felle. Es handelt sich dabei um Schaf- und Ziegenfelle, die den Körper verhüllen und vor Kälte schützen. Diese weiss-braun-schwarz gescheckte Verkleidung ist auch der Ursprung der Bezeichnung «Tschäggättä».

    Von grösster Bedeutung sind die überlebensgrossen, von Hand geschnitzten und bemalten Holzmasken aus Arvenholz. Diese Masken sind wunderbare Kunstwerke, die mit einer besonderen Technik geschnitzt werden, die man übrigens auch in Ostafrika bei den Massai wieder findet. Ob das Zufall ist oder irgendeine uralte Verbindung besteht, ist nicht bekannt. Ihre Eigenart im Vergleich zu anderen Masken der Schweizer Volkskunst ist jedenfalls klar erkennbar. Im Mittelalter stellten die Tschäggättä ihre Masken selber her, heutzutage werden sie bei den wenigen noch verbliebenen Maskenschnitzern ausgeliehen. Als grosse Meister dieses Kunsthandwerks gelten heute Jakob Taunast aus Wiler und Willy Rieder aus Kippel. Im Lötschentaler-Museum in Kippel sind solche grossartigen Masken zu bewundern.

    Gute Erreichbarkeit
    Das abgeschiedene Lötschental mit seinen 1500 Einwohnern ist heute sehr gut mit Auto, Bahn und Postauto erreichbar. Mit der Bahn fährt man vom westlichen Wallis herkommend bis Gampel. Von dort aus führt das Postauto innert einer halben Stunde über Goppenstein nach Kippel hinauf. Von Bern oder Brig herkommend fährt man mit dem Regionalzug über die alte Lötschbergstrecke bis Goppenstein und von da aus braucht das Postauto weniger als 10 Minuten bis Kippel. Dort befindet sich das Lötschentaler-Museum mit interessanten Informationen und sehenswürdigen Gegenständen zu Geschichte und Leben im Tal. Dabei nimmt der Brauch der Tschäggättä einen wichtigen Platz ein. Das Museum ist von Juni bis Oktober täglich  (ausser montags) von 14 bis 17 Uhr geöffnet.

    Hervé Dubois

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